Finkenzeller

Nachweis einer PTBS II

Verkehrsrecht Schadensrecht
07.12.2022
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OLG München, Urteil vom 08.09.2021, Az. 10 U 546/21

Leitsätze

1. 1. Eine posttraumatische Belastungsstörung nach ICD 10, F 43.1 setzt unter anderem ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß voraus, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würden. Schon angesichts dieses Erfordernis scheiden posttraumatische Belastungsstörungen bei vielen Verkehrsunfällen aus. (Rn. 5 - 6)

2. 2. Ein wesentlicher Verfahrensmangel, der allein gem. § 538 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO zur Aufhebung und Zurückverweisung führen kann, stellt denknotwendig eine unrichtige Sachbehandlung iSd § 21 Abs. 1 S. 1 GKG dar. Dabei können auch die Gebühren des erstinstanzlichen Verfahrens niedergeschlagen werden. (Rn. 14 - 15)

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Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten vom 26.01.2021 wird das Endurteil des LG München I vom 19.01.2021 (Az. 20 O 22654/15), soweit nicht Ziffer 3. des Endurteils betroffen ist, samt dem ihm zugrundeliegenden Verfahren aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG München I zurückverwiesen.

Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.

II. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens bleibt dem LG München I vorbehalten.

Gerichtsgebühren für die Berufungsinstanz sowie gerichtliche Gebühren und Auslagen, die durch das aufgehobene Urteil verursacht worden sind, werden nicht erhoben.

III. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

V. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 12.445,70 € festgesetzt.

Gründe

A.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO).

B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung gegen die Verurteilung der Beklagten in Ziffern 1., 2., 4. des Endurteils hat in der Sache jedenfalls vorläufig Erfolg. Hinsichtlich Ziffer 3. des Endurteils ist die Berufung zurückzuweisen. In Ziffer 5. des Endurteils ist die Entscheidung nicht angegriffen und insoweit rechtskräftig.

I.

Das Landgericht hat nach derzeitigem Verfahrensstand zu Unrecht einen Anspruch der Klägerin auf weiteres Schmerzensgeld, Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für künftige materielle Schäden sowie Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten bejaht. Die Entscheidung des Landgerichts beruht auf einer fehlerhaften Beweiserhebung, weil die erholten Gutachten unbrauchbar sind.

1.

Die Klägerin erlitt durch den streitgegenständlichen Verkehrsunfall zwar keine HWS-Distorsion, jedoch, wie im HNO-Gutachten im Verfahren LG München I 19 O 3272/12 (= 10 U 119/16 OLG München) bereits festgestellt, eine geringfügige Hörminderung und einen beidseitigen Tinnitus. Die Feststellungen des Sachverständigen, wonach eine Primärverletzung der HWS nicht Voraussetzung für die Annahme der Unfallbedingtheit des Tinnitus/Hörschadens ist, sind grundsätzlich nicht zu beanstanden. Das im hiesigen Verfahren erholte HNO-Gutachten vom 19.11.2016 berücksichtigt aber nicht, dass die Klägerin ausweislich der Angaben des Professor E. im Parallelverfahren (Sitzungsniederschrift vom 30.01.2015, S. 3 = Bl. 138 der beigezogenen Akten) diesem gegenüber im März 2013 angab, dass sie keinen Tinnitus mehr habe, wobei auch das Audiogramm rechts unauffällig war. Weiter gab die Klägerin noch bei der Anamnese bei Dr. K. im Parallelverfahren am 26.05.2014 diesem gegenüber an, dass das „Piepen“ ganz wegging, nachdem sie Ende 2012 und Anfang 2013 einen Heiler in Brasilien aufgesucht hatte. Der nach dem HNO-Gutachten als unfallbedingt einzustufende Tinnitus beeinträchtigte die Klägerin somit zunächst ab März 2013 überhaupt nicht mehr und erst mit der Berufungsschrift im Parallelverfahren wurde vorgetragen, der Tinnitus sei nach wie vor vorhanden. Das HNO-Gutachten lässt jegliche Auseinandersetzung hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Unfallgeschehen und dem neuerlichen Auftreten des bzw. der neuerlichen Beeinträchtigung durch den Tinnitus nach einer Pause von mehr als einem Jahr vermissen. Zudem hat der HNO-Sachverständige im Verfahren 19 U 3727/12 im Termin vom 30.01.2015 (Protokoll S. 5 = Bl. 140 d.A.) ausgeführt, dass nach einem Audiogramm 2013 der Tinnitus nicht mehr vorhanden war und rechts wieder eine Normalhörigkeit vorliegt, somit von einer Heilung der Klägerin auszugehen sei.

2.

Der psychiatrische Sachverständige attestierte eine zum Zeitpunkt der Untersuchung leichtgradig depressive Episode als Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung nach ICD 10, F 43.1. Hinsichtlich der Beurteilung der PTBS stützt sich der Senat ausschließlich auf die ICD 10: F43.1 (vgl. Senat, Urteil vom 26.07.2017, 10 U 3773/16): 'Diese entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Prädisponierende Faktoren wie bestimmte, z.B. zwanghafte oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf erschweren, aber die letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung (F62.0) über.

Vor allem ist zu beachten, dass das sog. A-Kriterium ein objektives Element enthält (die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde), welches die Annahme einer PTBS bei vielen Verkehrsunfällen nach richtiger Auffassung verhindert. Vorliegend kommt die Annahme einer PTBS nach dem unfallanalytisch-biomechanischen Gutachten, welches im Parallelverfahren erholt wurde, nicht ansatzweise in Betracht.

Die diesbezügliche Fehlerhaftigkeit des Gutachtens schließt freilich nicht aus, dass die Klägerin als Folge des unfallbedingt erlittenen Tinnitus eine psychiatrisch relevante Erkrankung welcher Form auch immer erlitt. Insoweit ist aber zu berücksichtigen, dass der Verkehrsunfall und der Tinnitus bei der ab 01.10.2012 erfolgten neuerlichen Behandlung bei Dr. Ka. nur beiläufig erwähnt und eine Behandlung deswegen nicht eingeleitet wurde und der Tinnitus nach derzeitiger Aktenlage ab März 2013 nicht mehr vorhanden bzw. kompensiert war.

II.

Der Senat hat eine eigene Sachentscheidung nach § 538 I ZPO erwogen, sich aber - entgegen seiner sonstigen Praxis - aus nachfolgenden Gründen dagegen entschieden:

Eine Beweisaufnahme in dem vorstehend beschriebenen Umfang durch die erforderliche Erholung neuer medizinischer Gutachten anderer Sachverständiger wäre umfangreich i. S. d. § 538 II 1 Nr. 1 ZPO und würde den Senat zu einer mit der Funktion eines Rechtsmittelgerichts unvereinbaren vollständigen Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens (Senat VersR 2011, 549 ff.) zwingen, zumal die Klägerin nunmehr auch bestreitet (Schriftsatz vom 25.07.2021 = Bl. 243 d.A.), gegenüber dem Sachverständigen Dr. K. im Verfahren 19 O 3727/12 LG München I angegeben zu haben, dass das „Piepen“ ganz weg sei und ihr jetziger Vortrag auch im Widerspruch zu den Angaben der im Parallelprozess vernommen Zeugen steht und auch deren neuerliche Einvernahme erforderlich erscheint.

Der durch die Zurückverweisung entstehende grundsätzliche Nachteil, dass eine gewisse Verzögerung und Verteuerung des Prozesses eintritt, muss hingenommen werden, wenn es darum geht, dass ein ordnungsgemäßes Verfahren in erster Instanz nachzuholen ist und dass den Parteien die vom Gesetz zur Verfügung gestellten zwei Tatsachenrechtszüge voll erhalten bleiben (Senat NJW 1972, 2048 [2049]; OLG Naumburg NJW-RR 2012, 1535 [1536]); eine schnellere Erledigung des Rechtsstreits durch den Senat ist im Übrigen angesichts seiner Geschäftsbelastung vorliegend nicht zu erwarten.

Die Beklagten haben - hilfsweise - die Zurückverweisung beantragt.

III.

Hinsichtlich Ziffer 3. des Endurteils war die Berufung der Beklagten zurückzuweisen. Auch insoweit wurde das Urteil mit der Berufung angegriffen. Der Berufungsantrag wie auch die Berufungsbegründung zielen auf vollumfängliche Klageabweisung und Beseitigung der Verurteilung der Beklagten. Hinsichtlich des diesbezüglich ausgeurteilten Haushaltsführungsschadens für 3 Wochen sowie des unfallbedingten Sachschadens zeigt die Berufung aber keine Rechtsfehler des Endurteils auf. Dass die Klägerin unfallbedingt mehrere Wochen in ihrer Erwerbs- und Haushaltsführungsfähigkeit eingeschränkt war, ergibt sich aus der im Parallelverfahren durchgeführten Beweisaufnahme. Die Berufung äußert sich nicht zum Ergebnis des Landgerichts bei der Schadensschätzung gemäß § 287 ZPO.

IV.

Die Kostenentscheidung war dem Erstgericht vorzubehalten, da der endgültige Erfolg der Berufung erst nach der abschließenden Entscheidung beurteilt werden kann (OLG Köln NJW-RR 1987, 1032; Senat in st. Rspr., vgl. etwa VersR 2011, 549 ff. und NJW 2011, 3729).

Die Gerichtskosten waren gem. § 21 I 1 GKG niederzuschlagen, weil ein wesentlicher Verfahrensmangel, welcher allein gem. § 538 II 1 Nr. 1 ZPO zur Aufhebung und Zurückverweisung führen kann, denknotwendig eine unrichtige Sachbehandlung i. S. des § 21 I 1 GKG darstellt.

§ 21 I 1 GKG erlaubt auch die Niederschlagung von Gebühren des erstinstanzlichen Verfahrens (vgl. OLG Brandenburg OLGR 2004, 277 und OLG Düsseldorf NJW-RR 2007, 1151 jeweils für ein unzulässige Rechtsgutachten über inländisches Recht; OLG Celle OLGR 2005, 723 für eine umfangreiche Beweisaufnahme zur Höhe vor Klärung des Anspruchsgrundes; Senat, Beschluss vom 17.9.2008 - 10 U 2272/08 für Gutachten von wegen Befangenheit ausgeschlossenen Sachverständigen, st. Rspr., vgl. etwa Urt. v. 19.3.2010 - 10 U 3870/09 [juris Rz. 93] und v. 27.1.2012 - 10 U 3065/11 [juris Rz. 12]).

V.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO. Auch im Falle einer Aufhebung und Zurückverweisung ist im Hinblick auf die §§ 775 Nr. 1, 776 ZPO ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit geboten (BGH JZ 1977, 232; Senat in st. Rspr., vgl. etwa. VersR 2011, 549 ff. und NJW 2011, 3729), allerdings ohne Abwendungsbefugnis (Senat a. a. O.).

VI.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.

VII.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 II 1, 47 I 1, 40, 48 I 1 GKG, 3 ff. ZPO.

Zusammenfassung:
Zu den Anforderungen an ein medizinisches Gutachten zum Nachweis einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Rechtsgebiete:
Verkehrsrecht Schadensrecht
Stichworte:
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