Finkenzeller

Kein Zurücktreten der Betriebsgefahr bei Spurwechsel im Kreisverkehr

Verkehrsrecht
11.04.2023
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LG Ingolstadt, Urteil vom 04.04.2023, Az. 75 S 22/23 V

Leitsätze

1. Das Vorfahrtsrecht des im Kreisverkehr fahrenden Pkw erstreckt sich auf alle Fahrspuren.

2. Kommt es in engem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren des Wartepflichtigen zur Kollision, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für eine Vorfahrtsverletzung. Die für den Anscheinsbeweis erforderliche Typizität entfällt nicht durch einen vorkollisionären Spurwechsel des Vorfahrtberechtigten im Kreisverkehr.

3. Aufgrund der besonderen Situation im Kreisverkehr bleibt auf Seiten des Vorfahrtberechtigten jedoch die Betriebsgefahr mit 20 % bestehen.

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Tenor

1. Das Endurteil des Amtsgerichts Ingolstadt vom 02.12.2022 wird unter Zurückweisung der Berufung des Klägers im Übrigen wie folgt abgeändert:

Die Beklagten werden samtverbindliich wird verurteilt, an den Kläger Euro 783,22 nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 05.05.2022 zu bezahlen sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 159,94 Euro.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Von den Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen trägt der Kläger 80 Prozent, die Beklagten samtverbindlich 20 Prozent.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

5. Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 3.916,07 € festgesetzt.

Gründe

I.

Der Kläger macht gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 31.03.2022 gegen 15:00 Uhr auf dem Audikreisel beim Westpark, Ingolstadt, ereignet hat. Der Kläger trägt vor, Eigentümer des Fahrzeugs mit dem amtlichen Kennzeichen ... zu sein. Beim Beklagten zu 1 handelt es sich um den Fahrer und bei der Beklagten zu 2 um den Kfz-Haftpflichtversicherer für das Fahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen ... .

Die Tochter des Klägers, die Zeugin B. fuhr von der Straße An der Hollerstaude in den Audikreisel ein. Der Beklagte zu 1, der den Audi Kreisel an der Ausfahrt Neuburger Straße verlassen wollte, wechselte zu diesem Zeitpunkt von der linken inneren Spur auf die rechte Spur. Im Bereich der Einfahrt An der Hollerstaude / Ausfädelungsstreifen Richtung Neuburger Straße kam es zur Kollision beider Fahrzeuge. Der genaue Kollisionsort und der Zeitpunkt des Fahrstreifenwechsels des Beklagten zu 1 liegen zwischen den Parteien im Streit.

Beide Parteien sind der Auffassung, dass der Unfall für sie jeweils unvermeidbar war und die volle Verantwortung auf der Gegenseite liegt.

Der Kläger macht einen Gesamtsachschaden in Höhe von 3.916,07 € geltend. Die Beklagtenseite hält einen Wiederbeschaffungswert des klägerischen Fahrzeugs von 5.600 € und den Restwert von 2.700 € und damit einen Wiederbeschaffungsaufwand von 2.900 €, nicht 3.145 € für richtig.

Das Erstgericht hat nach Vernehmung der Zeugin B. und formloser Anhörung des Beklagten zu 1 die Klage abgewiesen. Zum einen konnte es sich nicht von der Aktivlegitimation des Klägers überzeugen und ließ diese im Ergebnis offen. Zum anderen ging das Erstgericht von einer klaren Vorfahrtpflichtverletzung der Zeugin B. aus, die auch ein Zurücktreten der Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs rechtfertige.

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger seinen Klageanspruch in voller Höhe weiter.

II.

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben. In Höhe der der Beklagtenseite zurechenbaren Betriebsgefahr ist sie auch begründet.

1.

Soweit das Erstgericht die Aktivlegitimation des Klägers offengelassen hat, geht die Kammer davon aus, dass diese vorliegt.

Zwar streitet für den Kläger nicht der unmittelbare Besitz am Fahrzeug und damit zu seinen Gunsten der§ 1006 BGB, Jedoch sind bei Eigentümerkonstellationen im Familienkreis nicht zu strenge Anforderungen zu stellen. Insbesondere ist zu beachten, dass gerade bei rechtlichen Laien sehr unklare Vorstellungen von Eigentum und Besitz herrschen und oftmals Kaufvertrag, Bezahlung, Versicherung und Zulassung des Fahrzeuges zwischen verschiedenen Familienangehörigen auseinanderfallen.

Hier hat der Kläger angegeben, den Kaufvertrag unterschrieben zu haben, das Eigentum gem. § 929 BGB erworben zu haben und im Fahrzeugbrief zu stehen. Dass den Kaufpreis der Opa bezahlt habe, spricht weder für die Eigentümerstellung des Klägers noch die der Zeugin B. noch die des Opas. Für die Eigentümerstellung der Zeugin B. spricht, dass sie die Versicherung bezahlt und das Fahrzeug gefahren hat. Das allein reicht jedoch zur Überzeugung der Kammer nicht, um die vom Kläger behauptete Eigentümerstellung als Käufer des Fahrzeugs zu erschüttern.

2.

Bei der Frage der Haftung ist das Erstgericht richtigerweise davon ausgegangen, dass sowohl die Klägerseite als auch die Beklagtenseite grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17, 18 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und auch nicht festgestellt werden kann, dass der Unfall für einen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Dies ist zutreffend und wird auch von der Berufung nicht in Frage gestellt.

Das Erstgericht hat ferner zu Lasten der Klägerseite einen Vorfahrtsverstoß der Zeugin B. bejaht. Dies ist zutreffend.

Die Zeugin war hier wartepflichtig und der Erstbeklagte gem. § 8 Abs. 1 a vorfahrtsberechtigt.

Das Vorfahrtsrecht des Erstbeklagten bestand auch ungeachtet eines Fahrspurwechsels, denn die Vorfahrt erstreckt sich auf die Fahrbahn in ihrer gesamten Breite (vgl. BGHZ 9, 6, 11, Urteil vom 19. September 1974 - III ZR 73/72, VersR 1975, 38, Urteil vom 26.09.1995 - VI ZR 151/94, VersR 1995, 1460; OLG Hamburg, VersR 1976, 893; Urteile der Kammer vom 5. September 2008 - 13 S 91/08; vom 14. November 2008 - 13 S 125/08 sowie vom 8. April 2011 - 13 S 11/11; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 8 StVO Rn. 37ff. jew. mwN.). Dafür, dass die Zeugin B. dieses Vorfahrtsrecht verletzt hat, spricht - wie es das Erstgericht zu Recht angenommen hat - der Beweis des ersten Anscheins. Entgegen der Auffassung der Berufung, (die sich hier auf eine Entscheidung des Landgerichts Hamburg (Urteil vom 14.11.2003 - 313 S 114/02) stützen kann, steht dem Anscheinsbeweis nicht entgegen, dass der Erstbeklagte vorkollisionär die Spur gewechselt hatte. Allerdings setzt die Annahme eines Anscheinsbeweises, wie der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 30.11.2010 (VI ZR 15/10 = DAR 2011, 134 mit umfangreichen Nachweisen zum bis dahin bestehenden Streitstand) im Zusammenhang mit dem Anscheinsbeweis beim Auffahrunfall noch einmal deutlich gemacht hat, stets voraus, dass ein typischer Geschehensablauf feststehen muss. Danach reicht beispielsweise allein das 'Kerngeschehen' des Auffahrens als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Denn es muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass ein Verkehrsteilnehmer im Rahmen des Unfallereignisses schuldhaft gehandelt hat (vgl. bereits BGH, Urteil vom 19.3.1996 aaO für den Fall des Abkommens von der Fahrbahn).

Der Umstand, dass der Erstbeklagte vorkollisionär die Fahrbahn gewechselt hatte, vermag die Typizität einer Vorfahrtsverletzung nicht aufzuheben. Weil sich das Vorfahrtsrecht des bevorrechtigten Verkehrs auf die gesamte Fahrbahn und nicht lediglich auf eine bestimmte Fahrspur bezieht und der Wartepflichtige im Übrigen auch mit Verkehrsverstößen des Bevorrechtigten rechnen muss, hätte die wartepflichtige Zeugin hier auch das Vorfahrtsrecht des Erstbeklagten beim Einfahren verletzt, wenn der Spurwechsel z.B. verkehrswidrig erfolgt war (wofür im konkreten Fall kein Nachweis geführt werden konnte). Insbesondere durfte die Zeugin nicht darauf vertrauen, dass das Beklagtenfahrzeug auf der ursprünglichen Spur verblieb.

Den Anscheinsbeweis hat der Kläger damit nicht erschüttert. Der Anscheinsbeweis wird erst entkräftet, wenn eine abweichende Schadensursache nicht nur im Bereich der gedanklichen Möglichkeit theoretisch aufgezeigt werden kann, sondern - belegt durch bewiesene Tatsachen - ernsthaft in Betracht kommt (vgl. BGH, Urteil vom 03.07.1990 - VI ZR 239/89, NJW 1991, 230; ). Nach den zutreffenden und von den Parteien nicht angegriffenen Feststellungen des Amtsgerichts liegen keine Umstände vor, die zur Erschütterung des Anscheinsbeweises geeignet sind. Es sind insbesondere keine Tatsachen vorgetragen und bewiesen, aus denen sich ergäbe, dass die Zeugin das bevorrechtigte Beklagtenfahrzeug bei der nach § 8 Abs. 2 Satz 2 StVO gebotenen Sorgfalt nicht hätte rechtzeitig wahrnehmen können (vgl. dazu KG, Schaden-Praxis 2003, 86;) oder dass der Beklagte zu 1 seinen Spurwechsel verspätet angekündigt hätte.

Ein von der Klagepartei angebotenes unfallanalytische Sachverständigengutachten war nicht zu erholen. Hierzu wird auf die Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils verwiesen. Die Lichtbilder hierzu wurden erstinstanzlich in Augenschein genommen. Zweifel an der Einsehbarkeit der Unfall Stelle für die Zeugin B. bestanden nicht. Vielmehr gab die Zeugin B. an, dass aus ihrer Sicht die äußere Fahrbahn, in die sie eingefahren sei, frei gewesen sei. Dies bedeutet aber umgekehrt, dass die innere linke Fahrspur von ihr wohl offensichtlich nicht die Beachtung bekommen hat, die bei gedanklicher Berücksichtigung eines möglichen Spurwechslers nötig gewesen wäre.

Ein unfallanalytisches Gutachten war auch deswegen nicht zu erholen, da nach eigenen Angaben der Zeugin B. diese in den Ausfädelstreifen eingefahren war, „sobald man reinfahren kann“. Dies ist aber, wie gerichtsbekannt ist und auch durch die erstinstanzlich vorgelegten Lichtbilder belegt wird, direkt im engsten örtlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahrvorgang der Fall.

3.

Den Erstbeklagten trifft kein Mitverschulden am Zustandekommen des Unfalls. Ein Verstoß gegen die Pflichten beim Wechsel eines Fahrstreifens iSd. § 7 Abs. 5 StVO ist nicht nachgewiesen, da offen geblieben ist, wo und unter welchen Umständen der Erstbeklagte die Fahrspur gewechselt hat. Damit fehlt der Nachweis, dass der Fahrspurwechsel sorgfaltswidrig - sei es unter Überfahren einer durchgezogenen Linie oder ohne rechtzeitige Ankündigung - erfolgt war. Im Übrigen bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte, um beweissicher zu klären, ob der Erstbeklagte, als die Vorfahrtverletzung für ihn erkennbar werden musste, noch so weit entfernt war, dass er unfallverhütend hätte reagieren können.

4.

Gegenüber dem Verschulden der Zeugin B. tritt aber im konkreten Fall die Betriebsgefahr des bevorrechtigten Beklagtenfahrzeuges nicht zurück.

Die Verletzung der Vorfahrt stellt zwar in der Regel - worauf auch das Erstgericht völlig zu Recht abgestellt hat, einen so schwerwiegenden Verstoß dar, dass eine Mithaftung des Vorfahrtberechtigten in aller Regel nur in Betracht kommt, wenn auch dem Berechtigten ein schuldhafter Pflichtenverstoß zur Last gelegt werden kann.

Hier hat der Beklagte zu 1 bei seinem Fahrstreifenwechsel von der inneren Fahrspur auf die äußere Fahrspur zwar nicht gegen § 7 Abs. 5 StVO verstoßen (s.o.). Danach darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Gerade im Verkehr in einem Verteilerkreis ist aber besondere Rücksichtnahme und Vorsicht für alle Verkehrsteilnehmer geboten, da ständig damit gerechnet werden muss, dass Fahrzeuge den Fahrstreifen wechseln, Fahrzeuge in den Verteilerkreis einfahren oder aus dem Verteilerkreis ausfahren. Jeder in einen Kreisverkehr einfahrende Verkehrsteilnehmer muss demzufolge damit rechnen, dass stehende Fahrzeuge in den Verteilerkreis auf die äußere, freie Fahrspur einfahren wollen.

Dies gebietet es, abweichend von einer klassischen Vorfahrtspflichtverletzung (zum Beispiel beim Einfahren von einer untergeordneten Straße in eine Vorfahrtstraße), im Kreisverkehr bei einem Zusammentreffen von Einfahren und Spurwechsel die Betriebsgefahr des Spurwechslers gerade nicht zurücktreten zu lassen.

Daraus ergibt sich eine Haftungsquote von 20 % für die Beklagten zu 80 % für den Kläger.

5.

Die Erholung eines Schadensgutachtens war nicht nötig. Das von der Beklagtenseite getätigte einfache Bestreiten des Wiederbeschaffungswertes sowie des Restwertes war angesichts des von der Klagepartei vorgelegten Schadensgutachtens unsubstantiiert und damit unbeachtlich. Es war von den klägerischen Schadenswerten auszugehen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 ZPO und die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10 ZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und sie keine Veranlassung gibt, eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung herbeizuführen (§ 543 Abs. 2 ZPO).

Zusammenfassung:
Wechselt der vorfahrtberechtigte Pkw im Kreisverkehr im Zusammenhang mit dem Einfahren des Wartepflichtigen die Spur, so tritt seine Betriebsgefahr nicht zurück.
Rechtsgebiete:
Verkehrsrecht
Stichworte:
Gericht:
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